Das Gespenst von Canterville

Es ist ein Stück Weltliteratur, das ich heute vorstelle. Denn wer kennt sie nicht, die Geschichte vom bemitleidenswerten Schlossgespenst Sir Simon, das nach glorreichen Jahrhunderten des Spuks plötzlich zu verzweifeln droht, weigert sich das frisch eingezogene, ignorante amerikanische Pack – die wunderbare Familie Otis – doch hartnäckig, es ernst zu nehmen…?

Mein Bücherregal beherbergt einige Varianten jener »hylo-idealistischen« Erzählung, wie sie Oscar Wilde selbst mit einem Augenzwinkern bezeichnete, wobei ich mich zugegebenermaßen schwer tat, eine davon auszuwählen. Nicht zuletzt wegen des wunderschönen Covers entschied ich mich schließlich für die Ausgabe der Inselbücherei, welche durch die einnehmenden Illustrationen von Aljoscha Blau hervorsticht (am liebsten würde ich sämtliche Bilder herausreißen und einrahmen) und darum auch meist die Fassung ist, zu der ich greife, wenn mich die Sehnsucht packt. Denn wie ihr wohl mittlerweile bemerkt habt, gehört dieses Büchlein zu meinen Liebsten…

2.jpg

Es ist erstaunlich, wie Wilde auf wenigen Seiten vollbringt, was andere in ganzen Reihen nicht vermögen: eine Verbindung zwischen Charakteren und Leser zu schaffen. Eine Verbindung, die mich mitfühlen lässt und dazu bringt, die Figuren weniger als Konstruktionen, sondern nahezu (zwecks Wirkung wird manch ein Charakter überzeichnet dargestellt) reale Personen wahrzunehmen, da sie handeln, wie sie handeln würden und nicht so, wie der Autor es will. Zudem schätze ich den für Wilde untypischen Humor, der dieses Werk bestimmt und doch auch ernste Momente zulässt, die mich jedes Mal die ein oder andere Träne verdrücken lassen…

Kommen wir nun zum wunden Punkt der Erzählung, welcher in ihrem abrupt wirkenden Ende begründet liegt. Während der Hauptteil gemächlich voranschreitet, von einigen gar als langweilig empfundenen wird, stellt sich die Auflösung in ihrer verhältnismäßig kurzen »Abhandlung« der vorangegangenen Handlung kontrastreich entgegen. Mit einem Mal ist es vorbei und ich als Leser fühle mich allein gelassen, vielleicht sogar ein wenig betrogen. Die betreffende Schlüsselszene zählt zwar zu meinen »Top 5 Buchszenen«, vereint sie doch mit ihrer Ehrlichkeit, Traurigkeit, Sehnsucht und Freundlichkeit ein derart starkes Bund an dargebotenen Gefühlen wie kaum eine andere mir bekannte Situation, hätte jedoch durch etwas mehr Ausführlichkeit vermutlich nur profitiert.

Nichtsdestotrotz ist »Das Gespenst von Canterville« ein keinesfalls zu verpassender Lesegenuss, der Schmunzeln, Verbundenheit und Nachdenklichkeit garantiert – und das alles auf gerade einmal 71 Seiten!

Oscar Wilde | Das Gespenst von Canterville | Aus dem Englischen von Franz Blei | Insel Verlag | 71 Seiten | Preis: 13,95 € | ISBN 978-3-458-19381-4 

Kommentar verfassen