Der Nachtzirkus

»Der Zirkus kommt überraschend. Es gibt keine Ankündigung, keine Reklametafeln oder Plakate an Litfaßsäulen, keine Artikel und Zeitungsanzeigen. Plötzlich ist der da, wie aus dem Nichts.« S. 7

Was Erin Morgenstern mit dem Nachtzirkus erschafft, ist mehr als eine Geschichte. Es ist vielmehr eine Idee, ein Traum, der auch nach Beenden des Buches weiter lebt und lächelnd die Arme ausbreitet, einen willkommen heißt wie ein Familienmitglied an jenem besonderen Ort…

Die gesamte Ausbildung der Zauberlehrlinge Celia und Marco diente allein dem Zweck, den seit Jahrzehnten andauernden Wettstreit ihrer Meister eines Tages fortzuführen. Am Schauplatz des eigens dafür eröffneten »Cirque des Rêves«, unter den Augen tausender unwissender Besucher, kreieren die Gegner Zelte, deren Inneres den physikalischen Gesetzen trotzt, Kunstwerke, die Einfallsreichtum und Geschick erfordern. Wir begleiten den Wettstreit über viele Jahre, in denen manch einer erkennt, dass etwas sonderbares vor sich geht, in denen Freundschaften entstehen und Liebe entbrennt, die keinen Platz an einem Ort hat, dem kein glückliches Ende bestimmt ist…

Es fällt mir schwer, zu beschreiben, was diesen Roman so außergewöhnlich macht, wie er mir im Geiste erscheint, denn er hat definitiv seine Schwächen, auf die ich auch gleich eingehen werde. Doch es ist etwas sonderbares, etwas besonderes an dieser Geschichte, das ich mit Worten nicht zu greifen vermag, etwas, das dafür sorgt, dass meine Gedanken auch nach Beenden des Buches noch häufig um den Nachtzirkus kreisen…

Auf den ersten Seiten begegnet man durch den kapitelweisen Wechsel der Jahreszahlen und Schauplätze einer Fülle an Personen und Handlungssträngen, die zunächst erschlagend wirken können. Doch nach und nach lichtet sich das Bild, die Fäden und Figuren nähern sich an, sodass am Ende alles einen Sinn, eine Bedeutung erhält. Morgenstern lässt sich Zeit, legt den Fokus auf Geschehnisse, die wenig Erregungspotential in sich tragen und bewirkt so, dass es ihrer Geschichte an einem Spannungsbogen fehlt. Dies führt dazu, dass wohl viele Leser frühzeitig aussteigen. Ich selbst legte das Buch häufig zur Seite, las und hörte es über einen langen Zeitraum, kehrte aber immer wieder dorthin zurück, da die Welt und die rätselhafte, teils düstere Atmosphäre, welche »Der Nachtzirkus« erschafft, eine bisher selten erlebte Faszination in mir erweckten.

Wie ich soeben erwähnte, nutzte ich auch das Hörbuch, das ich im Übrigen wärmstens empfehlen kann. Der große Vorteil, den das Lauschen (explizit) dieser Geschichte in sich trägt, ist die Tatsache, dass sich die Wirkmächtigkeit des teils abgehackten Schreibstils (zumindest in meinem Fall) erst beim Hören vollends entfalten konnte. Matthias Brandt schaffte es, den Worten mehr Bedeutung zu verleihen, als deren stummes Widerhallen in meinem Kopf es vermochte.

»Der Nachtzirkus« ist also eindeutig nichts für diejenigen, die schnell lesen, die spannungsgeladen Seite für Seite verschlingen möchten. Er ist für jene, die einer Geschichte Zeit geben, sich zu entfalten, die träumen und fühlen und so eine kleine Perle am Bücherhimmel erkunden wollen…

Erin Morgenstern | Der Nachtzirkus | Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit | Ullstein Verlag | 464 Seiten | Preis: 12,00 € | ISBN-13 9783548285498

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