Herr Katō spielt Familie

Seit Herr Katō im Ruhestand ist, weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Täglich sieht er sich mit denselben Fragen konfrontiert: Die Plattensammlung neu ordnen oder doch das Radio reparieren? Beim Spaziergang am Obdachlosen vorbeigehen oder ihn umgehen? Hat er auch die Mäuse gegrüßt? Und wie wäre es mit einem weißen Spitz? Es wäre doch prächtig, wenn er aufs Wort gehorchen würde. Herr Katōs ganzes Leben scheint still zu stehen. Die ehemaligen Arbeitskollegen hat er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, die Kinder sind schon lange ausgezogen und seine Frau und er haben einander kaum noch etwas zu sagen. Doch als er eines Tages bei einem seiner Spaziergänge auf Mie trifft, nimmt sein Leben wieder an Fahrt auf. Denn die 30-Jährige bietet ihm einen Job in ihrer Agentur »Happy family« an, bei der Menschen Schauspieler, so genannte Stand-Ins engagieren können, um ihre Angehörigen zu spielen…

»›Ich spiele Familie.‹ Ein Satz, er weiß es, der ihm im Gedächtnis bleiben wird, er weiß es in dem Augenblick, als sie ihn ausspricht, dass das einer jener Sätze ist, die ihn nachts wach halten, wenn er sich hin und her wälzt, endlos, und er seiner Frau durch die Wand sagen will: ›Komm doch herüber. Lass es gut sein. Genug der Nichtigkeiten, die uns nicht weiterbringen. ‹« S.27

Es sind spannende Themen, die Milena Michiko Flašar in »Herr Katō spielt Familie« behandelt. Da wären zum einen die Stand-In-Agenturen, die es tatsächlich in Japan gibt. Auf der Suche nach einer Antwort auf das warum findet sich Herr Katō von den Geschichten seiner Auftraggeber berührt wieder, stellt weitere Fragen. Wer spielt eine Rolle, oder besser: Wer spielt keine Rolle?

In Rückblenden erfahren wir mehr über die Vergangenheit des Protagonisten, über den Beginn der verblassten Liebe zu seiner Frau, über vergangene Hoffnungen und Wünsche, die sich nun der ernüchternden Realität stellen müssen. Die Frage »Was wenn…« schlich sich auch abseits des Lesens oftmals in meine Gedanken und beschäftigte mich nachhaltig. Doch das dominanteste  Thema, das der Geschichte als roter Faden folgt, besteht in den Veränderungen, die eine traditionelle Ehe (Frau = Hausfrau) nach dem Renteneintritt des Mannes durchläuft. Im Buch wird konkret auf das Retired-Husband-Syndrome verwiesen, das die zunehmende Entfremdung der Ehepartner darin begründet sieht, dass die Frauen sich nur schwer an die andauernde Anwesenheit ihrer Männer gewöhnen können und dadurch Dauerstress ausgesetzt sind. Die Darstellung dieser Problematik anhand von Herr Katōs Ehe empfand ich als überaus gelungen, gemessen daran, dass mich stets ein unangenehm berührtes Gefühl beschlich, wenn das Verhalten der beiden an Gleichgültigkeit grenzte.

»› [E]s ist eben nicht jeder ein Hai wie du, es gibt solche und solche Arten. Wobei ich wohl eher zu denen gehöre, die gefressen werden, während du einer bist, der frisst, weshalb ich mich in Acht nehmen muss vor dir, es ist sozusagen ein Naturgesetz. Dabei. Du tust mir ja nichts. Du bist einfach nur da. Und wie du da bist! So sehr da! Von früh bis spät bist du da! Und ich weiß nicht, wie ich es dir begreiflich machen soll, aber dein Dasein bedingt schlichtweg mein Nichtsein.‹« S. 94

Im Gegensatz zu Mie, von der ich gern etwas mehr gelesen hätte, ist Herr Katō zwar kein sonderlich sympathischer, aber dafür glaubhafter und standfester Charakter. Er ist ein Mann, der stolz auf sein Haus ist, weil es das höchste in der Siedlung ist. Trotz der wachsenden Anstrengung stemmt er sich stur Tag für Tag gegen die Steigung des Hügels, auf dem es thront, denn ein Verkauf, wie ihn seine Frau hin und wieder angesichts ihres Alters vorschlägt, kommt nicht in Frage. Wofür hätte er dann all die Jahre geschuftet? Die Tatsache, dass sie die Einkäufe mangels eines Autos hinaufschleppen muss, kümmert ihn dabei herzlich wenig. Er ist der Mann im Haus und trifft solche Entscheidungen, während seine Frau den Haushalt zu führen hat. Dementsprechend argwöhnisch steht er ihren neuesten Anwandlungen in Form von Tanzstunden und Fitnesskursen gegenüber und ist empört, als sie von ihm verlangt, sich selbst das Essen warm zu machen. Herr Katō steigert sich in solchen Momenten gern in Dinge hinein, stellt sich vor, wie er seiner Frau eine Szene macht, doch dabei bleibt es für gewöhnlich auch, wie bei seinen seit Jahren im Raum stehenden Plänen für einen Urlaub in Paris.

Es ist beeindruckend, wie die Autorin es unmissverständlich vollbringt, das Wesen ihres Protagonisten durch dessen Gedankengänge und Handeln im Einklang zum Ausdruck zu bringen. Ich habe selten eine derart greifbare Vorstellung von einer Romanfigur entwickeln können. Auch der wirklich bemerkenswerte klare und ruhige Schreibstil tat hier seinen Dienst. Einen interessanten Gegenpart zu den anschaulichen Ausführungen von Herr Katōs Gedanken stellten die meist abgehackter und sprunghafter daherkommenden Dialoge dar. Durch die hier zu Hauf vorkommenden Ellipsen wird man als Leser gefordert, aufmerksamer und vor allem zwischen den Zeilen zu lesen. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Gegensatz nicht allen gefällt, mir jedoch hat er großen Spaß bereitet!

Mein Fazit: »Herr Katō spielt Familie« ist eine unaufdringliche, ruhige Geschichte, die ohne großen Knall auskommt und eine Menge Sätze beherbergt, die man schlicht aufgrund ihrer Schönheit markieren möchte. Trotz eines fehlenden Wow-Moments (okay halt stop, der Schreibstil ist definitiv ein Wow-Moment) bin ich froh, die 20 Euro in die Hand genommen zu haben und werde mir definitiv auch das erste (hochgelobte ) Buch der Autorin »Ich nannte ihn Krawatte« zulegen.

Milena Michiko Flašar | Herr Katō spielt Familie | Wagenbach | 176 Seiten | Preis:  20,00 € | ISBN 978-3-8031-3292-5

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