Brodecks Bericht

»Die Masse ist ein riesiger fester Leib, geformt aus tausenden vernunftbegabter Wesen. Es gibt keine glückliche und friedliche Masse. Hinter dem Lachen und der Musik gerät das Blut in Wallung. Ich habe sie am Werk gesehen, die Menschen, wenn sie die Gewissheit haben, nicht allein zu sein…« S.202

Als der Außenseiter Brodeck eines Abends auf der Suche nach Butter im Gasthaus eintrifft, sieht er sich sämtlichen Männern des Dorfes gegenüber, die soeben gemeinsam einen Fremden ermordet haben. Er soll einen Bericht schreiben. Einen Bericht über die Geschehnisse seit der Ankunft des »Anderen«. Einen Bericht, der die Tat erklärt. Eine gefährliche Aufgabe, denn die Dorfbewohner wachen über seine Arbeit, wachen über ihn, während er beschließt, einen zweiten Bericht zu beginnen…

»Brodecks Bericht« ist wohl eine der Geschichten, die man gemeinhin als »schwere Kost« bezeichnet und zugleich das eindringlichste und in vielerlei Hinsicht beeindruckteste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe. Es geht um Schuld und Rechtfertigung, um Schweigen und Scham, um Verrat, um Schmerz, um die Grausamkeit des Menschen. All das verpackt in einer Graphic Novel, deren düsterer und harter Zeichenstil die bedrohliche, mit Angst versetzte Stimmung meisterhaft zu transportieren vermag.

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Die Charaktere und ihre Geschichten, die Angst und der Hass wirken schmerzlich echt, sodass es mir mehr als einmal kalt den Rücken herunterlief. Überaus bemerkenswert erschien mir ein Gespräch mit dem örtlichen Pfarrer, das auf außergewöhnliche Weise zugleich zwei Charakterisierungen vornimmt und durch den Einsatz des kühlen, präzisen Scheibstils (den ich durchgehend sehr zu schätzen wusste, scheute er sich doch trotz der Form »Graphic Novel« nie vor Länge) brilliert:

»Die Menschen sind perverser als das wildeste Tier… Sie begehen leichthin das Schlimmste, und dann können sie mit ihren Taten nicht weiterleben. Ihre Erinnerungen Brodeck, tief im Innersten bewahrt, die lügen nicht. Also kommen sie zu mir, weil sie glauben, ich könne sie trösten, und sie erzählen… Sie sagen mir alles. In mein Hirn lassen sie ihre Exkremente und allen Unrat ab, um sich zu erleichtern… Dann gehen sie, gereinigt und bereit, bei erster Gelegenheit von vorn anzufangen. Ich bin die Kloake, Brodeck.« S.145

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Auch wenn etwas an sprachlichen Bildern in Verbindung mit Flora und Fauna hätte gespart werden können (Drohungen werden hier gern indirekt ausgedrückt), werde ich  zukünftig wohl auch noch einmal nach der Romanversion greifen, wo sicherlich noch einige weitere »markierbare« Sätze auf mich warten.

Die Geschichte ist spannend, der Zeichenstil meisterlich, die Stimmung beklemmend und die Auflösung bleibt dem Vorangegangenen treu. »Brodecks Bericht« ist definitiv eine große, vielleicht sogar die größte Leseempfehlung des Jahres meinerseits!

Manu Larcenet, Philippe Claudel | Brodecks Bericht | Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock | Reprodukt Verlag |  328 Seiten | Preis:  39,00 € | ISBN 978-3-95640-132-9

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