Die Schlange von Essex

»Stellas weiße Hände zitterten, die Worte fielen ihr aus dem Mund wie leuchtende Perlen an verworrenen Ketten, ihre Pupillen waren geweitet und schwarz.« S.437f

Was für eine Geschichte. Ich fühle mich ausgelaugt. Erschöpft. Getroffen. Verwundet – und doch zufrieden. »Die Schlange von Essex“ ist ein Buch, das wehtut. Unbarmherzig schleicht es um einen herum, schürt Hoffnung, die man zugleich fühlen wie nicht fühlen möchte und streut Beklommenheit ob der Aussichtslosigkeit der Situation. Denn als die streitlustige Darwinanhängerin und Witwe Cora Seaborne und der verheiratete Pfarrer William Ransome 1893 in einem verschrobenen Küstenörtchen aufeinandertreffen, entwickelt sich ein Band, das tiefer als Freundschaft reicht – und ihrer beider Leben zu erschüttern droht.

»Was zwischen uns ist, ist geteilt. Es trennt uns und bindet uns aneinander. Was mich zu dir hintreibt, treibt mich von dir weg.« S. 432

Sprachgewaltig und schonungslos schildert uns Sarah Perry in »Die Schlange von Essex« in ihrem eindringlichen, atmosphärischen Schreibstil eine zarte Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte, die mehr ist, als der Klappentext vermuten lässt, die über zwei Menschen hinausgeht und in Nebensträngen ein Beziehungsnetz strickt, wo Freundschaft und Familie auf die Widrigkeiten des Lebens treffen, wo Anziehung enttäuscht, Ehrgeiz geweckt und Schmerz ertragen wird.

Geschildert wird dabei aus vielerlei Sichten: Durch Coras Sohn Francis, der anders ist als andere Kinder, oder den wohlhabenden George Spencer, der hoffnungslos in dessen sozialistisch ambitioniertes Kindermädchen Martha verliebt ist, durch den talentierten, jedoch leidlich unattraktiven Chirurgen Luke Garret, der Cora schon vor dem Ableben ihres Mannes verfallen war oder Williams schöne Frau Stella, die in ihrer lieblichen Oberflächlichkeit und Tratschfreude mehr sieht, als man ihr zutraut. Und all diese Figuren, schrullig wie herzlich fanden meine Sympathie, was angesichts der offenkundigen Tatsache, dass, wie auch immer sich die Geschichte entwickeln würde, es Opfer geben würde, einfach nur schmerzte. Und die Geschichte entwickelte sich… wie sie sich entwickeln musste, wie ihre Charaktere es forderten und zugleich vollbrachte sie es, nicht in dem Maße vorhersehbar zu sein, wo sie enttäuschen würde.

»ich möchte einfach nur frei sein und denken, was mir in den Kopf kommt. Ich möchte meine Gedanken frei umherschweifen lassen und sie nicht in feste Bahnen lenken, die andere für mich angelegt haben und die nur in diese oder jene Richtung führen…« S. 156

Die herzzerreißenden Gespräche zwischen Cora und Will, ihre Briefwechsel, die Stärke unserer Protagonistinnen, die durch den furiosen Schreibstil spürbare Küstenatmosphäre, die kauzigen Dorfgestalten, die am Aberglauben einer Alptraumgestalt festhalten, die das Dorf heimsucht, die Perspektivwechsel – nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Kapitel – die sich derart elegant und lückenlos in den Erzählfluss einfügten, dass er eine mir bisher unbekannte Dynamik entwickelte – all das überzeugte mich vollends.

»Die Schlange von Essex«, das übrigens 2017 mit dem britischen Buchpreis für den besten Roman ausgezeichnet wurde, ist eine kleine Buchperle. Zweifellos wird nicht jeder, betrachtet man den ausladenden Schreibstil und die eher tröpfelnde Geschichte, einen Zugang dazu finden. Doch einen Versuch ist es allemal wert. Ich bin überwältigt und überzeugt, eines der besten Bücher gelesen zu haben.

Sarah Perry | Die Schlange von Essex | Aus dem Englischen von Eva Bonné | Eichborn Verlag | 492 Seiten | Preis:  24,00€ | ISBN: 978-3-8479-0030-6

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